WECHSELWEISE: Christine Epler fragt Ali Can

Im Rahmen der Interviewreihe "WECHSELWEISE" sprechen Ali Can und Christine Epler über ein Thema, das leider nach wie vor aktuell ist: Rassismus in der Arbeitswelt. Ali Can ist ein bekannter Aktivist und Autor, der sich seit vielen Jahren gegen Rassismus und Diskriminierung engagiert. Christine Epler ist eine erfahrene Beraterin, die die Deutsche Bahn in Fragen der Diversität und Inklusion berät.

Christine: Welches persönliche Erlebnis hat dich dazu gebracht Sozialaktivist/ Antirassismus-Aktivist zu werden und Projekte wie die „Hotline für besorgte Bürger“, #MeTwo Hashtag etc. ins Leben zu rufen?

Ali: Als Sohn kurdischer Aleviten ist es mir ein Stück weit in die Wiege gelegt, für diese Themen offen zu sein. Aufgrund der doppelten Unterdrückung und Ausgrenzung in der Türkei haben wir 1995 – ich war 2 Jahre alt – in Deutschland Asyl gesucht. So war ich durch die Themen zuhause schon immer etwas vertraut mit Ausgrenzung und nicht-gewollt sein. Ich denke, dass es keine einzige Zäsur als Startpunkt für meine Arbeit gab, sondern im Rückblick eine Summe von Erlebnissen – und irgendwann ist dann das Fass übergelaufen. In meiner gesamten Kindheit und Jugend wurde ich beispielsweise in meiner Schulklasse rassistisch gehänselt. Wir lebten eine Zeit lang in einem Mehrfamilienhaus und im Treppenhaus gegenüber die Familie waren Neonazis mit Hakenkreuz-Symbolen an der Tür. Ich durfte nicht immer mit allen deutschen Kindern in meiner Nachbarschaft spielen. Diese vielen persönlichen Erlebnisse machen auch andere Menschen, wie ich später gemerkt habe.

Darüber hinaus gibt es aber doch ein besonders markantes Erlebnis, das mich elektrisiert und den Weg für meine spätere Arbeit geebnet hat. Das war eine mehrtägige Reise in ostdeutsche Städte im März 2016. Denn 2015 und 2016 hat man sehr schlecht über diese Bundesländer gesprochen und es gab in den Medien eine Reihe flüchtlingsfeindlicher Übergriffe und Brandanschläge. Ich wollte wissen, was es mit dem Hass auf sich hat und wie man dem – neben besseren Gesetzen, Gegendemonstrationen usw. – noch so entgegenwirken kann. So habe ich angefangen, regelmäßig bei PEGIDA Demonstrationen in Dresden teilzunehmen und eine Kommunikation zu entwickeln, von der die Hoffnung für mehr Offenheit und Toleranz für Vielfalt ausging. Als dann mein erstes ehrenamtliches und klein gedachtes Projekt “Hotline für besorgte Bürger” eine bundesweite und starke Resonanz erfuhr, wollte ich mein Lehramtsstudium pausieren und mich fortan für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen. Wenn man so möchte, war das der richtige Start meiner Diversity-Arbeit.

#MeTwo wiederum war zwei Jahre später aus dem Gedanken geboren, dass für eine antirassistische Entwicklung in Deutschland viel mehr über Rassismus gesprochen werden müsste - und zwar von den Betroffenen. Was erleben wir tagtäglich? In welchen gesellschaftlichen Bereichen? In Deutschland war eine monatelange Debatte geführt von Betroffenen längst überfällig und so war #MeTwo die größte Antirassismus-Debatte in Deutschland, die ebenfalls aus Deutschland geboren war.

Christine: Was sind die wichtigsten Ziele und die wirksamsten Maßnahmen in der Bekämpfung von Rassismus für Unternehmen?

Ali: Die wichtigsten Ziele eines Unternehmens würde ich an dieser Stelle reduzieren auf “Fordern und Fördern”, sonst würde es den Rahmen sprengen. Fordern bedeutet für mich hier, alle Menschen für das Thema mitzunehmen. Dabei wird oft unterschätzt, wie wichtig das offene Sprechen und eine wertschätzende Aufklärung über Rassismus sind. Die meisten Menschen haben noch das 90er-Verständnis von Rassismus verinnerlicht, wonach ein Mensch willentlich rassistisch sein muss oder erstmal “Ausländer raus” oder Vergleichbares sagen muss, damit er*sie als rassistisch gilt. Wir sind im Jahre 2023 aber viel weiter und sollten versuchen, die Menschen für dieses weiterentwickelte Verständnis von Rassismus mitzunehmen - am besten nicht mit erhobenem Zeigefinger. Wenn beispielsweise jemand das strukturell weitreichende und institutionelle Problem des Rassismus nur als subjektives, unschönes Mobbing versteht, wird er*sie schwer das Thema Repräsentation von Rolemodels; Anti-Tokenism, Empowerment und das Problem gut gemeinter Witze verstehen. So werden wir uns immer im Kreis drehen und über “Was ist denn Rassismus?” diskutieren und vergessen, dass es am Ende des Tages bei Betroffenen um existenzielle Fragen wie Gehalt, Wohnung, psychische Gesundheit und Lebensqualität geht.

Fordern heißt aber auch, dass ein Unternehmen bereit sein muss, Ressourcen bereitzustellen, mit denen dann das Unternehmen umgekrempelt werden kann. Ja, es wird sowohl Entscheidungsträger*innen als auch die hiesige Belegschaft heraus’fordern’, wenn zugespitzt gesagt plötzlich das Unternehmen von allen zur Einstellung ein Bekennen zum Antirassismus verlangen sollte. Was ich damit sagen möchte ist, dass Antirassismus durchaus Auswirkungen auf Betriebsabläufe und Entscheidungsprozesse hat. Fördern bedeutet für mich hier insbesondere, dass wir gezielt Betroffene von Rassismus unterstützen. Fördern bedeutet, dass das Unternehmen ihnen Wege aufzeigt, wie sie für ihre Rechte und Chancen Hilfe und Unterstützung erfahren können, wie sie sich selbst organisieren und sich aktiv in Migrations- und Antirassismusfragen einbringen können. Es geht schlussendlich aber auch um eine Kultur der Zugehörigkeit – wenn Betroffene von Rassismus wissen, dass ihr*e Arbeitgeber*in aus tiefstem Herzen Rassismus verurteilt und sich persönlich dafür einsetzt, dass sie sowas nicht erleben, dann wird es sie überzeugen, länger zu bleiben.

Tokens sind BIPOC-Personen (also Nichtweiße), die in einem Unternehmen eine Symbolposition mit einer Alibifunktion haben. Sie sollen “ihre Gruppe” repräsentieren und der Welt zeigen, dass das Unternehmen nicht diskriminiert, weil sie ja eine bestimmte Gruppe von Menschen bei sich im Unternehmen beschäftigt.

Mit Empowerment ist hier die Unterstützung der Selbstbestimmung und Selbstermächtigung von BIPOC gemeint.

Christine: "Integration ist für mich eine Sache, die etwas mit Zugehörigkeit und Orientierung zu tun hat." Wie kann man die Zugehörigkeit und Bindung für Unternehmen und ihre Mitarbeitende übersetzen? Wann fühlen sich Mitarbeitende integriert bzw. zugehörig?

Ali: Das Gehalt und die Arbeitszeiten sind zwei große Faktoren für den Start in einem Unternehmen. Das Gefühl der Zugehörigkeit jedoch ist auch sehr mächtig und entscheidet darüber, ob Arbeitnehmer*innen sich langfristig in dem Unternehmen sehen oder schon nach etwas Besserem Aussicht halten. Bei dem Thema Antirassismus geht es um Zugehörigkeit aus der Sicht von Betroffenen. Sie entsteht weder mit einer Unterschrift unter einem Unternehmensleitbild, dem Beitritt einer bundesweiten Vielfalts-Initiative noch mit einer theoretischen Schulung. Oft ist es die Kombination aus verschiedenen Formaten, in denen Migrant*innen vor allem gezielt angesprochen werden. In meinen Großprojekten, in denen ich regelmäßig mit unterschiedlichsten Menschen Veranstaltungen mache, weiß ich: Zugehörigkeit entsteht durch’s Erleben. Arbeitnehmer*innen wollen oftmals einen vertrauten Austausch über ihre Belange, regelmäßige Unterstützungsformate, einen Raum für selbst-organisierte Treffen, besondere Fortbildungen und in erster Linie eine*n Vorgesetzte*n, der*die Vielfalt lebt. Dann kommt es eben darauf an, wie gut Unternehmen ihr - ich sage bewusst - Team kennen: Sollte ich wissen, wann Nouruz/Newroz gefeiert wird? Ist in meiner Straße ein Schild über einen Kolonialherren? Wie viel Mehrsprachigkeit erlauben und fördern wir? Das sind Fragen, die immer je nach Kontext und Unternehmen unterschiedlich beantwortet werden.

Christine: Allyship – Erfolgreiche Menschen aus ähnlichem kulturellem Hintergrund werden oft als Vorbilder wahrgenommen aber gibt es für dich auch „Allies“ (Menschen, die sich aus der eigenen privilegierten Position heraus für die Rechter Benachteiligter einsetzen), die dein Leben geprägt haben und wenn ja, wodurch und inwiefern?

Ali: Meine Familie sollte abgeschoben werden, als wir bis ca. 2006 noch geduldet waren. Ich erinnere mich mittlerweile nur noch schwach daran, wie das alles ablief, da ich mit knapp 13 Jahren nicht alles verstanden hatte. Doch als mein Vater mir Telefonnummern von Rechtsanwält*innen, Familienangehörigen in der Türkei und in Deutschland in die Hand drückte, wusste ich, dass es ernst ist. Ich erinnere mich an die angespannten Gesichter in meiner Familie, die stockenden Gespräche und vor allen Dingen an die Lähmung. Ich wusste nicht weiter, keiner von uns wusste das. Als mein Vater alles getan hatte, um der drohenden Abschiebung zu entgehen und wir noch keinen Erfolg sahen, haben wir uns bei Verwandten versteckt. Schließlich zwingt die Polizei die Betroffenen am gewaltvoll und zerrt sie (wie damals meine Großtante, mitten in der Nacht) zum Flughafen. In dieser Situation hat sich eine weiße, deutsche Familie mit Anstellung bei der Kommune für uns eingesetzt. In stoischer Beamtenmanier und leidenschaftlicher Kommunikation hat sich ein Nichtbetroffener sich an die Ausländerbehörde bzw. an die Stadt gewendet. Dieser Beitrag hatte in Kombination mit anderen Dingen eine Wirkung und wie soll ich sagen? Am Ende des Tages bin ich über so eine Hilfstat, so ein Allyship glücklicher als über das Lernen von sensibler Sprache. Sonst wäre ich jetzt wohl im Erdbebengebiet, aus dem ich stamme, entweder gestorben oder im Elend in Zelten.

Christine: Welche Rassismus-Themen siehst du zurzeit vermehrt bei Unternehmen? Was sind die Herausforderungen für Arbeitgeber*nnen und welche Ansätze helfen langfristig?

Ali: Zwei Themen habe ich. Ein drängendes Thema ist die Frage, wohin ein Unternehmen möchte, wenn es nun vereinzelte oder auch einen Bündel an antirassistischen Maßnahmen einleitet. Oder anders gefragt: Wenn wir stets anti sind, also gegen Rassismus - w o f ü r sind wir? Welches Gefühl, welche Kultur soll eintreten? Mir scheint es, dass einige Diversity-Beauftragte gibt, die vor lauter Tatendrang beispielsweise vergessen, dass Antirassismus viele Dimensionen hat und die Wahrnehmung von Betroffenen eine wichtige Ebene darstellt. Wenn Betroffene ein bestimmtes Format als unterstützend und heilsam empfinden, dann sollte das so gefördert werden. Wenn Betroffene beispielsweise gemeinsam ein klassisches “Kultur”-Fest feiern möchten, so ist das höchstwahrscheinlich unterlegt von einem überholten Kulturverständnis (und damit ein Stück weit kritisch). Aber: Wenn sie das empowert, ist das Wichtigste abgehakt.

Stattdessen erlebe ich, dass Diversity-Beauftragte noch zu sehr nach “hochkarätigen” und “populären” Persönlichkeiten und Expert*innen Ausschau halten, einen großen Talk machen möchten und dann mit einem guten Gefühl ein Häkchen unter ihre Arbeit setzen. Aber das hilft wenig den Menschen, mehr der Politur der Unternehmensfassade. Dazu gehört auch mein zweites, großes Thema, das mir in den letzten Monaten immer öfter auffiel: Diversity Beauftragte sehen immer mehr ein, dass performatives Engagement nur bedingt das Unternehmen verbessert. Ich sage immer: Antirassismus im Unternehmen darf nicht exklusiv und performativ sein. Und manche haben eben angefangen, statt nur einzelne Aktionen und Mitgliedschaften zu fördern, einen ehrlichen Blick in das eigene Unternehmen zu wagen und dabei antirassistische Verbündete zu beteiligen. Eine Lösung ist die Begleitung des Prozesses über einen längeren Zeitraum. So erlebe ich das nämlich in meiner Arbeit im Diversity Lab. Die besten Erfolge, die höchste Stimmigkeit, habe ich in einem Unternehmen nach sechs aufeinander folgenden Teilnahmen an Sitzungen erlebt.

Christine: Was sind Deine Erwartungen an die Zusammenarbeit und den Austausch mit Unternehmen im Bereich Antirassismus?

Ali: Hier kann ich alle bisherigen Antworten einfügen und darüber hinaus sagen: Eine konstruktive, möglichst positive Kultur zur Auseinandersetzung mit Rassismus. Das Thema hat eine große Schwere und nachhaltig ändern werden wir in Unternehmen nur dann etwas, wenn wir dieses Thema greifbarer und nahbarer gestalten. Lasst uns also mehr darüber austauschen, wie wir alle Menschen mitnehmen können. Denn Antirassismus sollte nicht nur von Betroffenen und Verantwortungsträger*innen im Unternehmen gelebt werden, sondern schlichtweg von der gesamten Gesellschaft.

Christine: Du bist Pate und Juryvorsitz der Wettbewerbskategorie "Gelebte Diversity" beim Deutschen Demografie Preis. Was zeichnet für dich „Gelebte Vielfalt“ in Unternehmen aus und worauf kommt es an?

Ali: Gelebte Vielfalt könnte mit einer Metapher beschrieben werden: Wenn ich auf eine Party oder in einen Club gehe, möchte ich genauso reinkommen können wie alle anderen auch. Ich möchte dabei die gleichen Chancen und Offenheit erleben wie andere. Wenn mir die Musik nicht gefällt, möchte ich genauso eine Chance haben, diese zu ändern wie andere, die die Musik zu Beginn ausgesucht haben. Ich möchte meinen eigenen Platz auf der Tanzfläche haben, aber auch in großer Runde tanzen können, ohne dass ich nonverbal ausgegrenzt werde. Und wenn ich meine Musik anmache, mich zeige und für eine gewisse Zeit mich entfalte, dann möchte ich sicher sein, dass die Menschen mich nicht dafür hassen oder anschließend benachteiligen

WECHSELWEISE: Ali Can fragt Christine Epler

WECHSELWEISE: 1. Teil

Ali Can und Christine Epler sind sich einig, dass Rassismus in der Arbeitswelt ein großes Problem darstellt. Sie betonen jedoch auch, dass es Möglichkeiten gibt, dieses Problem anzugehen. Unternehmen müssen sich bewusst sein, dass Diversität und Inklusion nicht nur moralisch richtig, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll sind.

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