In einer Artikelserie möchten wir Perspektiven und Einschätzungen von Expert*innen unterschiedlicher Fachrichtungen zur kontrovers diskutieren Aktivrente sammeln. Ziel ist es, die neue Regelung aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und so eine fundierte, vielschichtige Auseinandersetzung zu ermöglichen. In diesem Beitrag stellt Prof. Dr. med. Hans Martin Hasselhorn, Leiter des Fachgebiets Arbeitswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal, seine Perspektive auf dieses Thema vor.
Prof. Dr. med. Hans Martin Hasselhorn, Oktober 2025
Die Aktivrente könnte wirksam sein, aber nur wenn …
Mit der Aktivrente möchte die Bundesregierung Rentnerinnen und Rentner über die Regelaltersgrenze hinaus dazu motivieren weiterzuarbeiten. Doch wird dieses Vorhaben gelingen? Ergebnisse der lidA-Studie (www.lida-studie.de) zur Erwerbstätigkeit im „frühen Ruhestand“ – also vor Erreichen der Regelaltersgrenze – deuten darauf hin, dass die Aktivrente durchaus Wirkung in die gewünschte Richtung entfalten könnte. Zugleich zeigen sie jedoch, dass die Maßnahme wohl auf einige Hindernisse stoßen wird.
Insgesamt könnte die Einführung der Aktivrente ein sinnvoller Baustein einer kohärenten Strategie für nachhaltige Beschäftigung in Deutschland werden. Wenn jedoch gleichzeitig spürbare Einschnitte beim Arbeitsschutz umgesetzt werden, wie sie diskutiert werden, ist eine solche Strategie nicht erkennbar.
Dafür, dass die Aktivrente tatsächlich mehr Rentnerinnen und Rentner in Beschäftigung bringen könnte, sprechen mehrere aktuelle Befunde der lidA-Studie:
- Hohe grundsätzliche Bereitschaft zur Erwerbstätigkeit: Die meisten Menschen im Ruhestand wären durchaus bereit, weiterhin zu arbeiten – viele tun dies bereits oder planen es. Besonders interessant ist die Gruppe von rund 40 % der Rentnerinnen und Rentnern, die zwar keine feste Absicht haben, einer Beschäftigung nachzugehen, sich auf Nachfrage eine solche Tätigkeit unter Umständen aber durchaus vorstellen könnten.
- Potenzial zur Ausweitung der Erwerbstätigkeit: Der überwiegende Teil jener, die auch nach Renteneintritt noch erwerbstätig sind, arbeitet bislang weniger als zwölf Stunden pro Woche – meist in geringfügiger Beschäftigung und damit ohne zusätzliche Steuerzahlungen. Die Einführung eines Freibetrags von 2.000 Euro könnte hier einen spürbaren Anreiz bieten, die Arbeitszeit auszuweiten oder überhaupt (wieder) erwerbstätig zu werden.
- Vorhandene gesundheitliche Ressourcen: Zumindest im frühen Ruhestand verfügen viele Menschen weiterhin über ausreichende körperliche und insbesondere psychische Ressourcen, um einer Beschäftigung nachzugehen.
Doch auch die Hindernisse, mit denen die Aktivrente startet, sind nicht zu übersehen:
- Geringe Wahrscheinlichkeit der Reaktivierung: Studien zeigen, dass eine durchgehende Erwerbstätigkeit nach Eintritt in den Ruhestand ein starker Prädiktor für spätere Beschäftigung im Alter ist. Die große Mehrheit der Menschen beendet ihre Erwerbsarbeit jedoch bereits deutlich vor Erreichen der Regelaltersgrenze und zieht sich vollständig aus dem Erwerbsleben zurück. Diese Gruppe wird weniger leicht wieder für die Erwerbstätigkeit zu aktivieren sein.
- Motivlage jenseits ökonomischer Anreize: Viele Menschen im frühen Ruhestand arbeiten, um soziale Kontakte zu pflegen und einer sinnstiftenden Aufgabe nachzugehen; der wichtigste Beweggrund ist die Freude an der Arbeit selbst. Dabei legen sie großen Wert darauf, selbst zu bestimmen, wie viel, wann und unter welchen Bedingungen sie arbeiten. Nur die wenigsten sind existenziell auf das zusätzliche Einkommen im Ruhestand angewiesen. Folglich wird ein finanzieller Anreiz bei den meisten voraussichtlich erst dann wirken, wenn die Arbeitstätigkeit ihre Hauptmotive (Freude an der Arbeit, Sozialkontakt, Aufgabe) offensichtlich anspricht.
Herausforderungen und Chancen für die Betriebe
Die Aktivrente eröffnet den Betrieben zweifellos eine Chance, erfahrene und motivierte Arbeitskräfte auch über die Regelaltersgrenze hinaus zu halten oder wieder zu gewinnen. Damit diese Chance jedoch genutzt werden kann, müssen die Betriebe aktiv werden – denn die Existenz der Aktivrente allein wird nicht ausreichen, um bestehende Hindernisse zu überwinden.
So besteht eine der größten Herausforderungen schon darin, erwerbsbereite Rentnerinnen und Rentner überhaupt zu erreichen, da viele von ihnen nicht aktiv nach einer Beschäftigung suchen. Unternehmen müssen gezielt auf diese Gruppe zugehen und individuelle Anknüpfungspunkte schaffen.
Darüber hinaus sind maßgeschneiderte, attraktive Beschäftigungsangebote gefragt – mit flexiblen Arbeitszeiten, passenden Aufgaben und einem wertschätzenden Umgang. Während der Beschäftigung gilt es, kontinuierlich im Gespräch zu bleiben und sicherzustellen, dass die Arbeit den älteren Beschäftigten guttut und Freude bereitet. Denn wer im Ruhestand arbeitet, tut dies meist freiwillig – und wird die Tätigkeit beenden, sobald sie zur Belastung wird.
Die Aktivrente führt nur also nur dann zum Erfolg, wenn Betriebe die Initiative ergreifen: durch kreative Strategien zur Rekrutierung, gezielte Ansprache und durch Arbeitsbedingungen, die Lust auf Arbeit im Alter machen.
Widerspruch: Aktivrente einführen – Arbeitsschutz zur Disposition stellen
Die Einführung der Aktivrente allein würde den Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel in Deutschland nicht beheben – das ist auch nicht ihr Anspruch. Sie könnte jedoch zu einem sinnvollen Puzzleteil einer umfassenden Strategie für nachhaltige Beschäftigung in Deutschland werden. Eine solche Strategie ist jedoch derzeit in der Bundesregierung noch nicht erkennbar. Irritierend wirkt, dass am gleichen Tag, an dem sich das Kabinett auf die Einführung der Aktivrente einigte, ein Konzept zur „Entbürokratisierung des Arbeitsschutzes“ vorgelegt wurde, das unter anderem vorsieht, wirksame Arbeitsschutzverpflichtungen für kleine und mittlere Unternehmen zu streichen. Das Gegenteil ist geboten: um immer mehr Beschäftigten eine Erwerbstätigkeit bis zum Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters und darüber hinaus zu ermöglichen, braucht es einen verstärkten Arbeits- und Gesundheitsschutz in jedem Betrieb im Land, der effektiv beiträgt zu verlässlich sicheren und guten Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten.
 
        Prof. Dr. med. Hans Martin Hasselhorn
Er ist Leiter des Fachgebiets Arbeitswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal und leitet seit 2016 die lidA-Studie.
