Perspektivlosigkeit über alle Altersklassen hinweg

Dass man gegen Ende des Erwerbslebens nicht mehr viel von der kurzen beruflichen Zukunft erwartet, scheint verständlich. Das Demographie Netzwerk hat in seiner diesjährigen Umfrage zu den Themen Arbeit, Rente und Altersabsicherung allerdings herausgefunden, dass auch Jüngere kaum Perspektiven im Job sehen. In der Online-Umfrage des Marktforschungsunternehmens Civey wurde nach der Zustimmung zu der Aussage „In meiner beruflichen Zukunft erwarten mich noch viele Möglichkeiten“ gefragt. Die Ergebnisse: Fast jeder zweite (49,5 %) kann dem nicht zustimmen.

Die Perspektiven schwinden insbesondere bei den älteren Jahrgängen ab 50: 62,1 % der über 50-jährigen Erwerbstätigen sehen kaum Möglichkeiten für sich. Erschreckend hoch ist die Perspektivlosigkeit aber auch in der Altersgruppe von 18 bis 29 Jahre: Über ein Drittel (34,4 %) der jungen Menschen erwarten kaum Perspektiven, obwohl der Großteil des Arbeitslebens noch vor ihnen liegt. Sogar 20,5 % der Auszubildenden blicken derart pessimistisch in ihre berufliche Zukunft.

„In der fehlenden Perspektive für die eigenen beruflichen Möglichkeiten spiegeln sich die Erfahrungen der Menschen wider, die sie im Berufsalltag machen. Stehen ihnen Türen offen oder werden sie eher benachteiligt, und wie viele Angebote werden überhaupt gemacht? Hier ist von Arbeitgeberseite aus noch viel Nachholbedarf, denn sie könnten ihren älteren Beschäftigten sehr wohl Angebote machen oder bestehende Angebote besser kommunizieren. In der politischen Diskussion sollte die Frage, welche Rolle Bildung in der zweiten Lebenshälfte spielt, eine größere Rolle spielen. Es braucht bessere Weiterbildungs- und Studienmöglichkeiten und auch neue Transfermöglichkeiten von einem Beruf in einen anderen.“

Prof. Dr. Ulrike Fasbender, Universität Hohenheim

Jede*r Zweite sucht „purpose“ in Erwerbsarbeit

Trotz dieser alarmierenden Zahlen zu den Entwicklungsmöglichkeiten nennt jede*r Zweite die Ausübung einer „sinnvollen Aufgabe“ als Motiv der Erwerbsarbeit. Dass die Sinnerfüllung wie die aktuelle Debatte vermuten lässt den finanziellen Aspekt überwiegt, bestätigt die Umfrage allerdings nicht: 83,2 % arbeiten, um ihre Existenz zu sichern. Auf Platz drei folgt der Kontakt zu anderen Menschen (43,8 %). Medial präsente Motive wie „Etwas zur Gesellschaft beizutragen“ (34 %) oder „Spaß zu haben“ (26 %) rangieren mit deutlichem Abstand dahinter.

In den Ergebnissen zur Bedeutung der Arbeit spiegeln sich die Perspektiven unterschiedlicher Lebensphasen und -situationen wider. So spielen für die Altersgruppen ab 50 Jahren verstärkt die Erfahrung von Akzeptanz und Wertschätzung sowie der Kontakt zu anderen Menschen eine Rolle. In der Alterskohorte 30 bis 39 Jahre sind der soziale Beitrag und die Weiterentwicklungsmöglichkeiten besonders wichtig. Die Erwartung, Spaß an der Arbeit zu haben, überwiegt naturgemäß bei den Jüngeren.

„Mit dem Alter werden soziale Motive zunehmend wichtiger, weil sich die Zukunftszeit verringert und sich Menschen damit eher auf das „Hier und Jetzt“ konzentrieren und das, was ihnen sozial und emotional wichtig ist. Bedeutsam erscheint mir bei diesen Zahlen zudem, dass die persönliche Weiterentwicklung über alle Altersgruppen hinweg einen hohen Stellenwert hat. Davon, dass die Älteren daran kein Interesse mehr haben, kann also nicht die Rede sein.“

Prof. Dr. Ulrike Fasbender, Universität Hohenheim

Früherer Renteneintritt gewünscht

Obwohl die Existenzsicherung der Arbeit bei der Mehrheit im Vordergrund steht, wollen fast 90 % der Befragten vor 67 in Rente gehen. Nur gut jede*r Zehnte würde, wenn sie*er es sich frei aussuchen könnte, bis zur gesetzlichen Altersgrenze oder länger arbeiten. Gut die Hälfte (54,2 %) wünscht sich bis 62 oder früher in den Ruhestand. Diese Antworten bestätigen die Ergebnisse der gleichlautenden Befragung aus dem Vorjahr: 2021 wollten 53 % mit 62 Jahren oder früher in Rente gehen. 13,4 % waren bereit, bis 67 oder länger zu arbeiten. Eine Altersgruppe hat ihre Meinung hier auffallend deutlich verändert: 62,3 % der 30- bis 39-Jährigen wollten 2021 bis zum 62. Lebensjahr in Rente gehen. In der aktuellen Umfrage äußerten diesen Wunsch73,5 %. Diese Verschiebung erklären die Autoren der Studie durch die häufige Mehrfachbelastung in diesem Alter durch Karriereoptionen, Erwerbs- und Carearbeit während der Corona-Pandemie.

„Wir alle kennen die demografische Entwicklung: In diesem Jahrzehnt werden die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge aus dem Arbeitsleben scheiden. Die dadurch entstehenden Herausforderungen für den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme sind immens. Wir müssen alle Fachkräftepotenziale aktivieren. Umso mehr müssen uns diese Zahlen alarmieren, dass viele Menschen keine Perspektive darin sehen, im Alter zu arbeiten. Aus der Umfrage wird deutlich, dass die Bereitschaft, über die Altersgrenze hinaus beruflich tätig zu sein, mit dem Alter steigt. Insbesondere erfahrene Fachkräfte sind häufiger motiviert, auch im Alter aktiv zu sein. Allerdings sollte man ganz genau hinschauen, wer weiterarbeiten möchte und wer muss. Wir benötigen eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der Arbeit, die über Digitalisierung oder New Work weit hinausreicht. Die Herausforderung für Unternehmen und Betriebe wird darin bestehen, auf individuelle Erwerbsbiographien und Lebensentwürfe einzugehen. Es benötigt passgenaue Angebote für die Beschäftigten.“

Niels Reith, Vorstandsmitglied beim Demographie Netzwerk ddn

Fast die Hälfte befürchtet unzureichende Altersabsicherung

Der Wunsch nach einem frühen Renteneintritt überrascht umso mehr, als dass fast die Hälfte der Befragten (45,1 %) sich unzureichend finanziell im Alter abgesichert fühlt. Nur ein knappes Drittel schätzt die persönliche Absicherung im Ruhestand als gut ein. Die Antworten auf diese Frage lassen deutliche soziodemografische Ungleichheiten erkennen: Schlecht abgesichert fühlen sich vor allem Menschen ohne Berufsabschluss (67,7 %), Arbeiter*innen (67 %) und Jüngere unter 30 Jahren (56,9 %). Auch der Gender Pension Gap wird bei dieser Frage sichtbar: Während sich 39,8 % der Männer schlecht abgesichert fühlen, sind es bei den Frauen 50,6 %.

„Dass viele Menschen pessimistische Erwartungen haben und sich im Alter schlecht abgesichert fühlen, ist kein gutes Zeichen. Wir müssen unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest machen und an sich ständig ändernde Herausforderungen anpassen. Dies gelingt nur mit vorausschauender übergreifender Zusammenarbeit. Gleichzeitig muss der (Mehr-)Wert der Sozialsysteme für alle Menschen deutlich sein.“

Niels Reith, Vorstandsmitglied beim Demographie Netzwerk ddn

Über die Umfrage

Für den Demographie-Index hat das Marktforschungsunternehmen Civey im Auftrag des Demographie Netzwerks 2.502 Erwerbstätigte im Zeitraum vom 1. bis 10. Oktober 2022 im Rahmen einer Online-Umfrage befragt. Die Erhebung hat insgesamt vier Fragen mit zwölf sozioökonomischen Faktoren wie Alter, Bildung, berufliche Stellung, Familienstand etc. verknüpft.  Die Fragen zielten auf die Einschätzung der zukünftigen beruflichen Möglichkeiten, die Bedeutung der Arbeit sowie den gewünschten Renteneintritt und die Alterssicherung im Ruhestand. Wissenschaftlich begleitet wurde die Umfrage von Ulrike Fasbender, Professorin für Wirtschafts- und Organisationspsychologie am Institut für Bildung, Arbeit und Gesellschaft der Universität Hohenheim.

Prof. Dr. Ulrike Fasbender

Professorin für Wirtschafts- und Organisationspsychologie am Institut für Bildung, Arbeit und Gesellschaft der Universität Hohenheim

Niels Reith

Geschäftsführer Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung
Vorstandsmitglied beim Demographie Netzwerk ddn